Notfall - MedicalGuide
Aufgrund des Hausarztmangels wenden sich immer mehr Menschen auch bei harmlosen Beschwerden an die Notaufnahmen der Spitäler. Andere reagieren bei medizinischen Warnzeichen nicht oder zu spät. Auf Initiative des Aargauischen Ärzteverbandes wurde ein Projekt lanciert, das der Bevölkerung den Zugang zu einer kostenlosen niederschwelligen medizinischen Ersteinschätzung ermöglicht und zur Entlastung der Notfallstrukturen beiträgt.
Ausgangslage
Der Hausarztmangel ist ein nationales, seit Langem bekanntes Thema. Erste einschneidende Auswirkungen sind für die Bevölkerung und für den Kanton seit einigen Jahren spür- und erlebbar. Immer mehr Menschen haben keinen Hausarzt mehr und wenden sich auch bei harmlosen Beschwerden an die Notaufnahmen der Spitäler. Andere reagieren bei medizinischen Warnzeichen – sogenannten «Red Flags» – nicht oder zu spät. Eine Schweizer Studie aus dem Telemedizin-
bereich zeigt, dass rund 70 Prozent der Betroffenen ihre Beschwerden hinsichtlich der Dringlichkeit und der notwendigen Handlungen anders als medizinische Fachpersonen beurteilen. Sowohl das Kantonsspital Baden wie auch das Kantonsspital Aarau berichten in den letzten Jahren über eine stark ansteigende Inanspruchnahme der Notaufnahmen. Der Aargauische Ärzteverband und das DGS des Kantons Aargau erachten die Zeit für gekommen, die Notfallversorgung der Bevölkerung mit digitalen Instrumenten zu ergänzen.
«Die Kantonsspitäler Baden und Aarau berichten in den letzten Jahren über eine stark ansteigende Inanspruchnahme der Notaufnahmen.»
Auf Initiative des Aargauischen Ärzteverbandes wurde gemeinsam mit dem DGS des Kantons Aargau und der Schweizer Firma In4Medicine AG ein Projekt lanciert, das der Bevölkerung den Zugang zu einer niederschwelligen medizinischen Ersteinschätzung ermöglicht und zur Entlastung der Notfallstrukturen beiträgt. Dazu wurde im Kanton Aargau mit «Medical-Guide» eine digitale, strukturierte medizinische Selbsteinschätzungs-App eingeführt, die zukünftig ein wichtiges Beratungs- und Steuerungselement in der Gesundheitsversorgung darstellen wird.
Wie funktioniert die Web-App «Medical-Guide»?
Patienten brauchen bei akuten Beschwerden wie beispielsweise Husten, Rückenschmerzen oder Fieber einfache Antworten auf folgende Fragen:
– Soll ich mit diesen Beschwerden zum Arzt?
– Wann muss eine ärztliche Abklärung oder Behandlung stattfinden?
– Welcher Arzt kann mir weiterhelfen?
– Kann ich mich auch selber behandeln? Wenn ja, wie?
«MedicalGuide» ist eine Web-App, welche den Anwender durch eine gezielte Befragung und auf der Basis «künstlicher Intelligenz» einfache und klar strukturierte Antworten auf diese Fragen gibt. Im Gegensatz zu nativen Apps, die meist an ein Betriebssystem (z. B.Android, iOS) gebunden sind und in einem «App-Store» bezogen werden müssen, können Web-Apps über das Handy, einen PC oder über ein Tablet direkt im Browser aufgerufen werden. Die Plattformunabhängigkeit sowie die verlässliche Aktualisierung der Software und der medizinischen Inhalte der Web-App eignen sich gut für den Notfallbereich. Damit «MedicalGuide» im Kanton Aargau flächendeckend genutzt werden kann, war es für die Beteiligten wichtig, die Web-App der Bevölkerung kostenlos anzubieten. Der Kanton Aargau unterstützt dieses Projekt deshalb auch finanziell.
«Je nach der ermittelten Dringlichkeit des Beschwerdebilds werden die Anwender dann einer angemessenen Versorgung zugeführt.»
Die Bedienung der Web-App ist sehr einfach. Der Anwender wird von einem Chatbot von Frage zu Frage durch die Anamnese geleitet (vgl. Abbildung 1). Im Hintergrund sorgt ein neuronales Netzwerk dafür, dass mögliche Warnzeichen – sogenannte «Red Flags» –zum Gesundheitszustand erkannt und dem Anwender angezeigt werden. Je nach der ermittelten Dringlichkeit des Beschwerdebilds werden die Anwender dann einer angemessenen Versorgung zugeführt. Das Spektrum reicht vom sofortigen Transport in die Notaufnahme über die Vorstellung in einer Arztpraxis oder einer ärztlichen Telekonsultation bis hin zu einer symptomatischen Behandlung in einer Apotheke oder der Empfehlung möglicher Selbstbehandlungsmassnahmen.
Wie wird die Qualität der Web-App «MedicalGuide» sichergestellt?
«MedicalGuide» ist ein Medizinprodukt, das entsprechend der Normen ISO 14971, IEC 62366, IEC 62304 und ISO 13485 entwickelt wird. Die medizinischen Inhalte von «MedicalGuide» wurden in den letzten zehn Jahren von verschiedenen Teams aus ärztlichen und nicht-ärztlichen medizinischen Fachpersonen entwickelt. Die «Red Flags» zu den wichtigsten Leitbeschwerden wurden bereits 2013 in einem vom Institut für Hausarztmedizin der Universität Bern initiierten Projekt in einem Konsensverfahren von Expertinnen und Experten aus verschiedenen medizinischen Fachrichtungen validiert und publiziert. In Deutschland wird das Ersteinschätzungsinstrument seit zwei Jahren im Notfalldienst der niedergelassenen Ärzteschaft bundesweit eingesetzt. Allein in diesem Anwendungsbereich werden täglich 4000 bis 5000 Ersteinschätzungen durchgeführt. Die Rückmeldungen der medizinischen Fachpersonen zu den medizinischen Inhalten und der Software fliessen in den für Medizinprodukte verpflichtenden Post-Market-Surveillance-Prozess und in die Weiterentwicklung von «MedicalGuide» ein. In Zusammenarbeit mit dem Kantonsspital Baden führt In4Medicine gegenwärtig die weltweit erste kontrollierte, klinische Studie zu einer Ersteinschätzungs-App durch.
«Die Rückmeldungen der medizinischen Fachpersonen fliessen in den Post-Market-Surveillance-Prozess von «MedicalGuide» ein.»
Vernetzung über die sektoralen und kantonalen Grenzen hinweg
Für das Gelingen und den Rollout der neuen Dienstleistung sind verschiedenste Akteure der medizinischen Grundversorgung einbezogen worden. In einem nächsten Schritt planen die Projektpartner, die Dienstleistung mit der Medizinischen Notrufzentrale Basel (MNZ) zu integrieren. Die MNZ bedient seit vielen Jahren rund um die Uhr die kantonale medizinische Notrufnummer 0900 401 501. Falls eine telemedizinische Beratung erforderlich oder seitens der Patienten gewünscht wird, kann die Selbsteinschätzung durch eine telefonische Beratung seitens der erfahrenen Gesundheitsfachpersonen der Notrufzentrale ergänzt werden. Wird eine medizinische Beratung am Telefon beansprucht, ist diese im üblichen Umfang von CHF 3.23/Minute kostenpflichtig. Die neue Web-App hat das Potenzial, die primäre Anlaufstelle in der Akut- und Notfallversorgung zu werden und in Notfallsituationen Patientensicherheit und Effizienz gleichermassen zu unterstützen. In weiteren Ausbauschritten kann die datenschutzkonforme Weiterleitung der Notfallanamnese an die nachbehandelnde Organisation sowie die Integration einer Terminvermittlung zu Arztpraxen, Spitälern und zu weiteren Partnern des Gesundheitsversorgungssystems erfolgen. Nebst der sektorübergreifenden Integration entlang des Notfallversorgungspfads ist die interkantonale Verbreitung dieses niederschwelligen Beratungsangebots wün schenswert und sinnvoll. Damit dies gewährleistet werden kann, ist die Web-App so aufgebaut, dass diese zukünftig auch in anderen Kantonen lanciert
«Die neue Web-App hat das Potenzial, die primäre Anlaufstelle in der Akut- und Notfallversorgung zu werden.»
werden kann. Einstweilen ist eine Ausweitung auf die Nordwestschweizer Kantone in Vorbereitung. Ein nationales Kommunikationspaket steht bereit. Die Bevölkerung, welche fast täglich überkantonal unterwegs ist, sollte überall identisch angesprochen werden. Ein breiter Wiedererkennungsgrad steigert massgeblich die Durchdringung des neuen Angebots und stützt den Grundsatz der Entlastung. Das neue Angebot ist eine niederschwellige Orientierungsmöglichkeit, die die Bevölkerung dabei unterstützt, zur richtigen Zeit die richtige Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen. In der bevorstehenden Grippewelle wird «MedicalGuide» ein wichtiges Orientierungsinstrument für eine durch COVID-19 verunsicherte Bevölkerung sein.